Der DJ tritt andächtig an sein Pult heran und macht sich bereit für eine neue Reise. Der erste Beat vibriert durch die Luft und löst noch mehr Skepsis in mir aus. Ich bin umringt von rund 100 Leuten, alle barfuß und in den unterschiedlichsten Outfits. Wir befinden uns in einer Art Zelt, zu den Seiten hinweg offen, so dass die warme hawaiianische Luft uns einhüllt. Die Geräuschkulisse von Coqui-Fröschen, Vögeln und Pfauen versetzt einen direkt in eine andere Welt. Meine Beine und Arme fühlen sich noch ganz schwer an, ich habe gerade ein einstündiges Sound Healing hinter mir, eingewickelt in eine Decke auf meiner Yogamatte habe ich mich von unzähligen Klängen beschallen lassen.
Klangschalen, Gongs, Stimmgabeln, Glockenspiel, Zungentrommel, Regenstab, Harfe und viele weitere Instrumente haben die Sound Healer aufgebaut für ihr Spektakel.
Und die Töne zeigen Wirkung. Mit geschlossenen Augen sich ganz auf die Klänge einlassen, sich in eine andere Welt transportieren lassen. Zu Beginn sind meine Gedanken noch chaotisch, das Gedankenkarussell dreht weiterhin seine Runden, doch je länger die Vibrationen der Töne auf meine Ohren und den Rest meines Körpers treffen, umso leiser werden die Gedanken. Dann kommt zum ersten Mal der ganz tiefe Gong. Ein so archaisches Geräusch, dass es mir für ein paar Sekunden komplett die Sprache verschlägt, oder besser gesagt – die Gedanken. Der Ton füllt meinen gesamten Geist aus und ist so allumfassend, dass schlichtweg kein Platz mehr bleibt für die Nebensächlichkeiten des Alltags oder die Sorgen des Tages. Ich atme tief durch, versuche mich ganz auf die Klänge und Töne zu konzentrieren, nur wahrzunehmen, ganz präsent zu sein.
Am Ende des Sound Healings fühle ich mich tatsächlich tiefenentspannt. Bereits zu Zeiten der Antike soll Klangtherapie zur Entspannung und Steigerung des Wohlbefindens eingesetzt worden sein. Man geht davon aus, dass beim Sound Healing Alpha-, Delta- und Theta-Wellen im Gehirn erzeugt werden – ganz wie bei einer intensiven Meditation. Körper und Geist kommen zur Ruhe und es entsteht Raum für Heilung.
Nach dem Sound Healing verteilen sich die Zuhörer stillschweigend im Raum, es findet ein fließender Wechsel zwischen Sound Healer und DJ statt. Die ersten Leute beginnen sich rhythmisch zu den Beats des DJs auf der Tanzfläche zu bewegen. So weltoffen und aufgeschlossen ich auch bin, ich gebe zu, in dem Moment ist die Skepsis wirklich groß. Die Tiefenentspannung ist ziemlich schnell aus dem Fenster, durch meine mentale Eingangstüre rennen Beurteilungen und Selbstzweifel, dicht auf den Fersen die Angst und der Zwang sich vergleichen zu müssen.
Dem typischen Fight-or-Flight-Modus nach verabschiede ich mich also erstmal nach draußen, schnell runter von der Tanzfläche. Bloß nicht gleich zu Anfang blamieren. Meine hawaiianischen Freunde lächeln mir aufmunternd zu.
Ich beobachte das Geschehen erstmal aus sicherer Entfernung. Was sich vor meinen Augen auftut, nennt sich Ekstatischer Tanz. Allein der Name. Wer ist denn heutzutage noch in Ekstase? Für sowas habe ich in meinem deutschen, gutbürgerlichen Alltag nun wahrlich keine Zeit. Ob das ein Fehler ist? Wir werden sehen.
Es gibt ein paar grundlegende Vorschriften, die beim gemeinsamen Tanz beachtet werden müssen. Alle Tänzer und Tänzerinnen sind barfuß unterwegs, es handelt sich um einen alkohol- und drogenfreien Raum, es dürfen keine Fotos oder Videos aufgenommen werden, es darf kein Körperkontakt zu anderen Tänzern oder Tänzerinnen hergestellt werden, außer man fragt vorab um Erlaubnis, und es wird nicht gesprochen während des gesamten Tanzes.
Ganz schön viele Regeln für so eine Ekstase, oder nicht?
Da stehe ich nun in Hawaii an einem Freitagabend und beobachte rund 100 Leute, wie sie bei lauten und durchdringenden Beats des DJs rhythmisch auf und ab hüpfen, sich drehen, die Arme in die Luft reißen, sich auf den Boden werfen und wieder aufspringen. So unterschiedlich die Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen auch sein mögen, eine Sache haben alle unmissverständlich gemeinsam. Jeder und jede Einzelne strahlt mir mit purer Lebensfreude entgegen. Absolute und reine Freude strömt durch den Raum. Und jeder scheint komplett bei sich zu sein, es gibt keine wertenden oder abschätzenden Blicke, es wird keine Tanzleistung eines anderen beurteilt. Jeder ist hier Tänzer oder Tänzerin, sobald die Fußsohle den Boden der Tanzfläche berührt.
Einer meiner Glaubenssätze allerdings: Ich kann nicht tanzen. Konnte ich noch nie, werde ich auch nie können. Ich kann weder einen Walzer noch einen Tango tanzen, ich kann mich nicht mal richtig im Takt bewegen, von rhythmischen Tanzsportarten wie Zumba ganz zu schweigen, das habe ich schon vor Jahren aufgegeben. Ist ja doch irgendwann ermüdend, wenn immer alle nach rechts hüpfen, nur man selbst nach links – oder?
Und genau hier liegt der Knackpunkt: Auf dieser Tanzfläche in Hawaii mitten im Pazifischen Ozean gibt es kein richtig oder falsch. Es interessiert hier schlichtweg niemanden, ob man sich im Rhythmus zur Musik bewegt, ob die Tanzbewegungen aussehen wie von Beyoncé oder eher wie von einem Affen im Zoo. Und warum stehe ich dann trotzdem noch am Rand?
Weil der größte Kritiker, die fieseste und am stärksten urteilende aller Stimmen im eigenen Kopf lebt. Allezeit präsent, vorlaut und gnadenlos. Doch was würde passieren, wenn wir diese Stimme einmal leiser drehen würden? Wenn wir ihr keine einschlägige Macht über unser Leben geben würden? Denn genau das passiert, wenn wir uns zurückhalten, Dinge nicht machen oder sagen, aus Angst vor Bewertungen anderer Personen,
die vielleicht niemals eintreten werden. Und selbst wenn… scheint mir dann eher ein Problem der anderen Person zu sein, oder nicht?
Studien der Psychologie zeigen klar, dass wir den Anteil an Beurteilungen durch andere Menschen deutlich überschätzen. Jeder Mensch denkt rund 60.000 Gedanken am Tag. Selbst wenn Tänzer Nummer 4 in seiner kakifarbenen Hose und seinem lila T-Shirt also einen wertenden Gedanken gegenüber meiner Bewegungsperformance haben sollte… ein minimaler Prozentsatz in seinem Wust an täglichen Gedanken.
Die einzige Person, die sich hier also gerade selbst das Leben schwer macht, bin ich selbst. Wenn wir vollkommene Freiheit erfahren wollen, müssen wir uns lösen von unserer inneren Kritikerin, von der Angst bewertet zu werden, von unserer Tendenz, sich in den eigenen Gedanken und konstruierten Geschichten zu verfangen. Mit dieser Einsicht atme ich ein paar Mal tief durch und setze meinen Fuß auf die Tanzfläche.
Sechs Wochen später, am Ende meines Hawaii-Aufenthalts, war ich dann letztendlich jede Woche beim Tanz. Ich sage jetzt voller Vertrauen, dass ich sehr wohl tanzen kann, und meiner inneren Kritikerin sage ich des Öfteren mal, dass sie eine Runde Gassi gehen soll. Ich habe in der Zwischenzeit ein bisschen Spaß am Leben. Und getanzt, lebt es sich doch irgendwie gleich viel leichter… findest du nicht? 😊