Es ist ein klirrend kalter Tag im schneereichen Kanada, als ich mit meinen UGG-Boots und meiner Wollmütze vor die Tür trete. Minus 25 Grad sind hier keine Seltenheit, die Luft ist oft so schneidend kalt, dass es einem regelrecht den Atem verschlägt. Aufgelöst und wütend stürme ich auf die Straße und marschiere ziellos die Straße entlang. Der ganze Tag war eine einzige Katastrophe: Ärger mit meinem Vorgesetzten, eine Auseinandersetzung mit Freunden, Verwirrungen und Missverständnisse haben den Tag gezeichnet.

Und so stapfe ich also am Straßenrand entlang, um meine Gefühle zu sortieren und einen freien Kopf zu bekommen. Ein Spaziergang im kanadischen Ort Golden in British Columbia umfasst ziemlich genau eine große Straße, welche die elementaren Einrichtungen des Ortes miteinander verbindet. Das klassische Pub und ein Burger-Restaurant, ein Supermarkt, ein Liquor Store und ein Buchladen. Der Ort liegt malerisch umgeben von Natur und Wildnis, Bergketten, Flüsse und Seen finden sich in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Während ich also noch vollkommen aufgelöst die Straße hinunterlaufe, den Blick starr auf den Boden gerichtet – es soll mich ja bloß niemand ansprechen – biege ich um die nächste Kurve, die Gebäude teilen sich und geben den Blick frei auf die Rocky Mountains. Ich bleibe abrupt stehen. Schon hunderte Male habe ich den Anblick der Rocky Mountains genossen und ihn förmlich aufgesogen, die Schönheit dieser Bergkette ist einfach atemberaubend. Und doch fühlt es sich an diesem Tag so an, als würde ich das Bergmassiv zum allerersten Mal wirklich sehen, als würde ich die Rocky Mountains in ihrer ganzen Urgewalt wahrnehmen und in jeder Zelle meines Körpers spüren. Majestätisch liegen die Berge vor mir, vollkommen unbeeindruckt von meinem persönlichen Drama und Herzensschmerz des Tages. In mir steigt ein Gefühl von tiefster Demut und Ehrfurcht auf, meine Probleme und Sorgen erscheinen so nichtig vor diesen Berggiganten, die sich vor mehr als 40 Millionen Jahren auf unserer Erde empor geschoben haben. Perspektivwechsel innerhalb weniger Sekunden, ausgelöst durch die positive Emotion der Ehrfurcht.

In der englischen Sprache nennt sich die Emotion bildhaft „AWE“, entsprechend dem Laut, den man zum Ausdruck bringt, wenn man ehrfürchtig ist. Wenn wir Ehrfurcht oder Awe empfinden, haben wir das Gefühl, uns in der Gegenwart von etwas Großem zu befinden, das unser gegenwärtiges Verständnis der Welt übersteigt.

Szenenwechsel. Wir lassen die kanadischen Rockies hinter uns und befinden uns im pazifischen Ozean auf einem Boot, das von zwei bis drei Meter hohen Wellen auf und ab gehoben wird. Ich bin weit davon entfernt, auch nur ansatzweise ein Gefühl von Ehrfurcht zu empfinden. Seit 2 Stunden fährt das kleine Boot mit rund 25 Touristen und meiner Wenigkeit aufs offene Meer hinaus. Mein Blick ist starr auf den Horizont gerichtet, meine Finger umkrallen die Reling, tiefes Ein- und Ausatmen. Innerlich bete ich, dass die zwei Übelkeitstabletten, die ich vor der Abfahrt eingeworfen habe, ihren Dienst tun werden. Urplötzlich hält das Boot an, wir haben unser Ziel erreicht. Jetzt heißt es für alle Passagiere: Neoprenanzüge anlegen und bereit machen für ein atemberaubendes Erlebnis – Nachtschnorcheln mit Manta Rochen. Bis jetzt finde ich aber weiterhin noch gar nichts atemberaubend, die Schwankung des Bootes ist im Stillstand noch extremer und die Aussicht, bei einbrechender Dunkelheit ins Wasser zu steigen, ist eher angsteinflößend als inspirierend. Ich bin angespannt. Es gibt noch eine kleine theoretische Einführung, und dann lassen wir uns ins Wasser gleiten, in ein schwarzes Loch der Ungewissheit. Wir bilden einen Kreis und halten uns alle mit ausgestreckten Armen an einer Art riesigem Surfbrett fest. Unter unseren Knien befinden sich Poolnudeln, so dass wir alle horizontal an der Wasseroberfläche treiben können und die Tiere nicht versehentlich mit unseren Schwimmflossen verletzen. An der Unterseite des Bretts sind Scheinwerfer befestigt. Wir bekommen das Zeichen, nach unten zu schauen, über den Schnorchel zu atmen. Die Wellen heben uns nach oben und nach unten, wir sind komplett eins mit dem Rhythmus des Ozeans. Ich positioniere erneut meine Brille und meinen Schnorchel, versuche meine Anspannung beiseitezuschieben und blicke nach unten in die Tiefe des Ozeans. Und dann sehe ich sie zum allerersten Mal – die legendären und gigantischen Manta Rochen. Kreaturen wie von einem anderen Planeten, strahlen sie absolute Magie aus. Ganz elegant und ruhig gleiten die Meeresgiganten durchs Wasser, große Exemplare können bis zu sieben Meter Spannweite erreichen (das ist breiter als unser Boot). Durch die Scheinwerfer wird Plankton angelockt, was die Hauptnahrungsquelle dieser eindrucksvollen Tiefseebewohner ist. Und so schwimmen die Giganten mit aufgerissenem Schlund auf uns zu, vollführen eine akrobatische Rolle knapp unter den Scheinwerfern, um sämtliches Plankton aufzusaugen, und verschwinden wieder in den Tiefen des Ozeans, nur um einige Sekunden später wieder emporzuschießen.

Und da ist sie wieder, diese kraftvolle Emotion der Ehrfurcht. Das Gefühl, ein Teil von etwas Großem zu sein. Das Gefühl, wenn das eigene Ego vollkommen zum Schweigen gebracht wird. Kein Platz für Grübeleien und individualistische Problemzentriertheit, keine Übelkeit und keine Anspannung. Nur der Ozean und Giganten aus der Tiefe.

Der Psychologieprofessor Dacher Keltner von der Universität in Berkeley hat sein halbes Leben damit verbracht, Ehrfurcht als Emotion zu erforschen. Laut Keltner gibt es acht sogenannte Wunder der Ehrfurcht, darunter moralische Schönheit, Kollektivbewusstsein, Natur oder Musik.

Die Bereiche, in denen Ehrfurcht als Emotion auftreten kann, sind vielfältig, ebenso wie die positiven Effekte auf unser Wohlbefinden. Die Forschung zeigt, dass das Erleben von Ehrfurcht Stress reduziert, uns dazu inspirieren kann, selbstloser zu handeln, uns kreativer werden lässt sowie unsere Lebenszufriedenheit erhöht.

Der Anblick der Rocky Mountains oder das Schnorcheln mit Manta Rochen sind sicherlich außergewöhnliche Beispiele. Für das Erleben von Awe muss es aber nicht immer größer, höher, weiter sein. Untersuchungen zeigen, dass Menschen zwei- bis dreimal pro Woche Ehrfurcht erleben, wenn sie das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen finden: die Großzügigkeit eines Freundes gegenüber einem Obdachlosen auf der Straße, der Duft einer Blume, das Licht- und Schattenspiel eines belaubten Baumes auf dem Gehweg, ein Lied, das einen an die erste Liebe erinnert… Alltägliche Ehrfurcht.

Ehrfurcht kann immer und überall um uns herum entstehen, wir müssen nur aufmerksam sein. Bist du dir zum Beispiel darüber bewusst, dass dein Gehirn gerade Linien auf einer Seite entschlüsselt, einen größeren Zusammenhang daraus herstellt und gleichzeitig fremde Geräusche aus der Umgebung filtert, deinen Muskeltonus aufrechterhält und deine Atmung steuert? Man könnte fast ehrfürchtig werden, oder nicht?

Ehrfurcht aktiv im Alltag zu fördern, ist gar nicht so kompliziert. Wenn du das nächste Mal einen Fuß vor die Tür setzt, wähle eine Zahl zwischen 1 und 100 und gehe diese Anzahl an Schritten. Dann blicke dich um und sei offen für das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen! Wer weiß, was du alles entdeckst 😊

Der DJ tritt andächtig an sein Pult heran und macht sich bereit für eine neue Reise. Der erste Beat vibriert durch die Luft und löst noch mehr Skepsis in mir aus. Ich bin umringt von rund 100 Leuten, alle barfuß und in den unterschiedlichsten Outfits. Wir befinden uns in einer Art Zelt, zu den Seiten hinweg offen, so dass die warme hawaiianische Luft uns einhüllt. Die Geräuschkulisse von Coqui-Fröschen, Vögeln und Pfauen versetzt einen direkt in eine andere Welt. Meine Beine und Arme fühlen sich noch ganz schwer an, ich habe gerade ein einstündiges Sound Healing hinter mir, eingewickelt in eine Decke auf meiner Yogamatte habe ich mich von unzähligen Klängen beschallen lassen.

Klangschalen, Gongs, Stimmgabeln, Glockenspiel, Zungentrommel, Regenstab, Harfe und viele weitere Instrumente haben die Sound Healer aufgebaut für ihr Spektakel.

Und die Töne zeigen Wirkung. Mit geschlossenen Augen sich ganz auf die Klänge einlassen, sich in eine andere Welt transportieren lassen. Zu Beginn sind meine Gedanken noch chaotisch, das Gedankenkarussell dreht weiterhin seine Runden, doch je länger die Vibrationen der Töne auf meine Ohren und den Rest meines Körpers treffen, umso leiser werden die Gedanken. Dann kommt zum ersten Mal der ganz tiefe Gong. Ein so archaisches Geräusch, dass es mir für ein paar Sekunden komplett die Sprache verschlägt, oder besser gesagt – die Gedanken. Der Ton füllt meinen gesamten Geist aus und ist so allumfassend, dass schlichtweg kein Platz mehr bleibt für die Nebensächlichkeiten des Alltags oder die Sorgen des Tages. Ich atme tief durch, versuche mich ganz auf die Klänge und Töne zu konzentrieren, nur wahrzunehmen, ganz präsent zu sein.

Am Ende des Sound Healings fühle ich mich tatsächlich tiefenentspannt. Bereits zu Zeiten der Antike soll Klangtherapie zur Entspannung und Steigerung des Wohlbefindens eingesetzt worden sein. Man geht davon aus, dass beim Sound Healing Alpha-, Delta- und Theta-Wellen im Gehirn erzeugt werden – ganz wie bei einer intensiven Meditation. Körper und Geist kommen zur Ruhe und es entsteht Raum für Heilung.

Nach dem Sound Healing verteilen sich die Zuhörer stillschweigend im Raum, es findet ein fließender Wechsel zwischen Sound Healer und DJ statt. Die ersten Leute beginnen sich rhythmisch zu den Beats des DJs auf der Tanzfläche zu bewegen. So weltoffen und aufgeschlossen ich auch bin, ich gebe zu, in dem Moment ist die Skepsis wirklich groß. Die Tiefenentspannung ist ziemlich schnell aus dem Fenster, durch meine mentale Eingangstüre rennen Beurteilungen und Selbstzweifel, dicht auf den Fersen die Angst und der Zwang sich vergleichen zu müssen.

Dem typischen Fight-or-Flight-Modus nach verabschiede ich mich also erstmal nach draußen, schnell runter von der Tanzfläche. Bloß nicht gleich zu Anfang blamieren. Meine hawaiianischen Freunde lächeln mir aufmunternd zu.

Ich beobachte das Geschehen erstmal aus sicherer Entfernung. Was sich vor meinen Augen auftut, nennt sich Ekstatischer Tanz. Allein der Name. Wer ist denn heutzutage noch in Ekstase? Für sowas habe ich in meinem deutschen, gutbürgerlichen Alltag nun wahrlich keine Zeit. Ob das ein Fehler ist? Wir werden sehen.

Es gibt ein paar grundlegende Vorschriften, die beim gemeinsamen Tanz beachtet werden müssen. Alle Tänzer und Tänzerinnen sind barfuß unterwegs, es handelt sich um einen alkohol- und drogenfreien Raum, es dürfen keine Fotos oder Videos aufgenommen werden, es darf kein Körperkontakt zu anderen Tänzern oder Tänzerinnen hergestellt werden, außer man fragt vorab um Erlaubnis, und es wird nicht gesprochen während des gesamten Tanzes.

Ganz schön viele Regeln für so eine Ekstase, oder nicht?

Da stehe ich nun in Hawaii an einem Freitagabend und beobachte rund 100 Leute, wie sie bei lauten und durchdringenden Beats des DJs rhythmisch auf und ab hüpfen, sich drehen, die Arme in die Luft reißen, sich auf den Boden werfen und wieder aufspringen. So unterschiedlich die Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen auch sein mögen, eine Sache haben alle unmissverständlich gemeinsam. Jeder und jede Einzelne strahlt mir mit purer Lebensfreude entgegen. Absolute und reine Freude strömt durch den Raum. Und jeder scheint komplett bei sich zu sein, es gibt keine wertenden oder abschätzenden Blicke, es wird keine Tanzleistung eines anderen beurteilt. Jeder ist hier Tänzer oder Tänzerin, sobald die Fußsohle den Boden der Tanzfläche berührt.

Einer meiner Glaubenssätze allerdings: Ich kann nicht tanzen. Konnte ich noch nie, werde ich auch nie können. Ich kann weder einen Walzer noch einen Tango tanzen, ich kann mich nicht mal richtig im Takt bewegen, von rhythmischen Tanzsportarten wie Zumba ganz zu schweigen, das habe ich schon vor Jahren aufgegeben. Ist ja doch irgendwann ermüdend, wenn immer alle nach rechts hüpfen, nur man selbst nach links – oder?

Und genau hier liegt der Knackpunkt: Auf dieser Tanzfläche in Hawaii mitten im Pazifischen Ozean gibt es kein richtig oder falsch. Es interessiert hier schlichtweg niemanden, ob man sich im Rhythmus zur Musik bewegt, ob die Tanzbewegungen aussehen wie von Beyoncé oder eher wie von einem Affen im Zoo. Und warum stehe ich dann trotzdem noch am Rand?

Weil der größte Kritiker, die fieseste und am stärksten urteilende aller Stimmen im eigenen Kopf lebt. Allezeit präsent, vorlaut und gnadenlos. Doch was würde passieren, wenn wir diese Stimme einmal leiser drehen würden? Wenn wir ihr keine einschlägige Macht über unser Leben geben würden? Denn genau das passiert, wenn wir uns zurückhalten, Dinge nicht machen oder sagen, aus Angst vor Bewertungen anderer Personen,

 die vielleicht niemals eintreten werden. Und selbst wenn… scheint mir dann eher ein Problem der anderen Person zu sein, oder nicht?

Studien der Psychologie zeigen klar, dass wir den Anteil an Beurteilungen durch andere Menschen deutlich überschätzen. Jeder Mensch denkt rund 60.000 Gedanken am Tag. Selbst wenn Tänzer Nummer 4 in seiner kakifarbenen Hose und seinem lila T-Shirt also einen wertenden Gedanken gegenüber meiner Bewegungsperformance haben sollte… ein minimaler Prozentsatz in seinem Wust an täglichen Gedanken.

Die einzige Person, die sich hier also gerade selbst das Leben schwer macht, bin ich selbst. Wenn wir vollkommene Freiheit erfahren wollen, müssen wir uns lösen von unserer inneren Kritikerin, von der Angst bewertet zu werden, von unserer Tendenz, sich in den eigenen Gedanken und konstruierten Geschichten zu verfangen. Mit dieser Einsicht atme ich ein paar Mal tief durch und setze meinen Fuß auf die Tanzfläche.

Sechs Wochen später, am Ende meines Hawaii-Aufenthalts, war ich dann letztendlich jede Woche beim Tanz. Ich sage jetzt voller Vertrauen, dass ich sehr wohl tanzen kann, und meiner inneren Kritikerin sage ich des Öfteren mal, dass sie eine Runde Gassi gehen soll. Ich habe in der Zwischenzeit ein bisschen Spaß am Leben. Und getanzt, lebt es sich doch irgendwie gleich viel leichter… findest du nicht? 😊

Einhunderteins. Einhundertzwei. Einhundertdrei. Ich will hier weg. Einhundertvier. Ich kann nicht atmen. Einhundertfünf. Es ist zu viel. Einhundertsechs. Welche Zahl war das gerade? 

Ein Martyrium meiner Gedankenwelt, dabei sollte doch alles so magisch und wundervoll sein. Ich befinde mich in Neuseeland. Das vermeintlich schönste Land der Erde. Ein Land voller Wunder – ein Fleck Erde bei dem sich Ozeane und Gletscher treffen, bei dem Fjorde und Klippen, Seen und Wasserfälle die Landschaft zieren. Ich wandere den berühmten Kepler Track, einer der zehn Great Walks in Neuseeland – 60 km über 4 Tage verteilt. 

Eingebettet in atemberaubende Landschaften liegen 3 Hütten entlang des Wanderweges – die Iris Burn, Moturau and Luxmore Hütte. Mit Toiletten, fließend Wasser und Gasöfen ausgestattet, zählen diese Hütten zu den luxuriöseren Backcountry Huts Neuseelands. 

Einhundertsieben. Einhundertacht. Einhundertneun. Meine Schultern fühlen sich an, als würden sie Zement tragen. Ich schnalle den Hüftgurt enger, um den Druck auf den Nackenbereich zu reduzieren. Ich bereue jedes Gramm, dass sich zu viel in meinem Rucksack befindet und gleichzeitig frage ich mich, wieso ich nicht noch einen Schokoriegel mehr eingepackt habe. 

Trotz der luxuriösen Ausstattung der Hütten muss das Nötigste im Rucksack transportiert werden. Ein Schlafsack und ein Kissen, sämtliche Lebensmittel, Kochutensilien wie Campinggeschirr und Topf, Kosmetika und natürlich Wechselklamotten. Bei der neuseeländischen Witterung kommt da einiges zusammen, wir bewegen uns auf einem Spektrum von fast null Grad und Wind über Regen bis hin zu 25 Grad und Sonne – und das alles innerhalb eines Tages. 

Einhundertzehn. Es ist der dritte Tag meiner Wanderung und meine Gedanken bewegen sich in Richtung einer Dunkelheit. Die Landschaft, die mich umgibt, ist unbeschreiblich schön. Ich wandere über alpine Bergketten und Fjordlandschaften, durch heimische Wälder und an Seeufern entlang. Ich liebe wandern und bin eine absolute Outdoor-Enthusiastin, aber dieser Track stellt mich vor Schwierigkeiten. Und zwar vor innere Schwierigkeiten. Meine Gedanken brüllen so laut, dass ich denke mir Platz der Kopf. Einhundertelf. 

Ich wandere diesen Track allein, genauso wie ich meine gesamte Reise allein bestreite. Ich liebe es allein zu reisen – so viel Freiheit und Flexibilität, die Chance an meine Grenzen zu gehen, mich selbst zu beweisen. Und doch bei diesem Track scheint die Einsamkeit Überhand zu nehmen und mich einzuhüllen wie Nebel. Die Warmherzigkeit und Offenheit der Neuseeländer und Neuseeländerinnen ist natürlich auch auf dem Kepler Track zu spüren, eine Nation wie sie authentischer und einladender nicht sein könnte. Und so bin ich auch abends in den Hütten selten allein, werde zum Kartenspielen und Nachspeise Essen eingeladen und ausführlich zu meiner Reise befragt. Und dennoch, das Gefühl von Einsamkeit bleibt. 

Einhundertzwölf. Einhundertdreizehn. Es ist dieses undefinierte Gefühl, dass ich nicht abschütteln kann. Ein Gefühl von Gefangenschaft. Ein ausgeliefert sein. Den eigenen Gedanken ausgeliefert. Während ich zwischen silbernem Farn und Buchenbäumen hindurchwandere, realisiere ich, dass ich komplett mit meinen Gedanken allein bin.  

Auf dem Track gibt es natürlich keine Stromversorgung, so dass ich mein Handy nur kurzzeitig anschalte, um die Schönheit der neuseeländischen Natur in einem Foto festzuhalten. Es gibt keine Musik, keinen Podcast, keine Meditationsanleitung mit denen ich meine Gedanken leiser drehen könnte. Kein WhatsApp oder Internet für die Zeit in der ich unterwegs bin. 

In meinem Alltag kann ich durchaus mit mir und meinen Gedanken alleine sein, mir bewusst eine Auszeit von meinem Handy nehmen. Aber natürlich nie so lange und nie so gezwungen. 

Einhundertvierzehn. Einhundertfünfzehn. Einhundertsechzehn. Ich spüre einen Impuls in mir aufsteigen, loszurennen. So schnell es geht den Track beenden. Da stehe ich also in der neuseeländischen Wildnis mit schmerzenden Schultern und einem Gedankenkarussell, welches sich von Minute zu Minute mehr in sich selbst zu verstricken scheint. Als wäre die Situation nicht schon verfahren genug, beginnt mein marterndes Gehirn die Lage zu bewerten oder besser gesagt, mich selbst abzuwerten. Die Eckpfeiler meiner psychologischen Arbeit aber auch für mich als Person sind Themen wie Dankbarkeit, Achtsamkeit oder positive Emotionen. Wie kann also gerade ich hier in Neuseeland stehen und nicht vor Freude platzen, strahlen, jede Sekunde genießen und die Natur um mich herum feiern? Stattdessen zähle ich von 0 aufwärts, um meine Gedanken zu beruhigen, gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen und die Minuten zu überbrücken. Einhundertsiebzehn. 

Häufig haben wir verlernt auf uns selbst und unsere Gefühle und Gedanken zu achten. Es ist so viel einfacher uns mit Musik oder Podcasts, Reels und nichtssagenden WhatsApp Unterhaltungen zu beschallen, als innezuhalten und unsere unangenehmen Gefühle wahrzunehmen. In der gezwungenen Stille des neuseeländischen Fjordlandes gibt es aber nur mich und meine Gedanken. Und diese brüllen, und zwar ohrenbetäubend laut. Einhundertachtzehn. Einhundertneunzehn. Einhundertzwanzig. 

Fakt ist, manchmal sind wir nicht in unserem höchsten Selbst. Manchmal kommen wir an unsere Grenzen und das gilt es ernst zu nehmen. Es ist entscheidend sich nicht dafür abzuwerten, wenn eigene Grenzen erreicht werden, vielmehr sollte es als Einladung betrachtet werden – als Möglichkeit zu reflektieren, was einem diese Erfahrung möglicherweise sagen will. 

Vielleicht sind manche Sachen allein nicht genauso gut wie mit Freunden oder geliebten Personen? Auch, wenn ich vehement darauf bestehe, dass ich alles allein machen kann und keinerlei Limitierungen hinnehmen möchte. Vielleicht ist es okay sich manchmal einsam zu fühlen? Vielleicht überfordern mich manche Situationen? Vielleicht ist mein Geist zuweilen nicht so in Balance, wie es mir selbst den Anschein macht? 

Ich habe in den Tagen nach dem Track viel über dieses Erlebnis reflektiert, mir Zeit genommen diese Erfahrung einzuordnen und nehme es als Anlass mir noch bewusster über meine innere Welt zu werden. Mehr Momente der Stille einzubauen, negativen Gefühlen und Zweifeln ebenso Raum zu geben wie all den positiven Gefühlen, meinen Grad der alltäglichen Beschallung kritisch zu reflektieren – all das mit einer wohlwollenden und liebenden Haltung mir selbst gegenüber. Ich habe bewusst Mitgefühl für mich selbst aufgebracht, anstatt mich weiter abzuwerten.

Und während ich diese Zeilen schreibe, mache ich mich bereit für den nächsten Track. Und diesmal gehe ich nur zwei Nächte und nicht wie ursprünglich geplant drei Nächte. Und das ist okay. Zugegeben ein wenig Respekt bleibt vor den kommenden Tagen. Ich starte den nächsten Great Walk mit ein bisschen Angst aber auch mit einem tiefen Vertrauen, dass egal welche Erfahrung der Track für mich bereithält, es für mich eine Möglichkeit des Wachstums sein kann, wenn ich es denn zulasse. Null. 

Meine Reise im Ausland ist vor allem auch eine Reise zu mir selbst und eine Reise in meine innere Welt. Eine ganz besondere Erfahrung habe ich im Westen Kanadas gemacht, als ich zu einer Vollmond Zeremonie eingeladen wurde. 

Eingeladen wurde ich von einer Freundin mit indigenen Wurzeln. Eine Frau, die zu beschreiben, äußert schwierig ist. So muss sich vermutlich auch der Pilot in Saint-Exupérys Erzählung gefühlt haben, als er versuchte der Leserschaft den kleinen Prinzen zu beschreiben. 

Eine Frau, welche Freiheit mit all ihren Sinnen lebt, in ihrem Erscheinungsbild und ihrem gesamten Lebensmodell. Eine dieser Frauen, die mit ihrer bloßen Anwesenheit den Raum einnehmen, stark und unabhängig mit einer besonderen Verbindung zur Natur und zu dem Land und der Erde ihrer Vorfahren. 

Zugegeben im ersten Moment war ich etwas zögerlich als ich die Einladung zur Mondschein-Zeremonie erhielt, aber die Anweisungen waren relativ simpel. Lediglich ein Stift, ein Blatt Papier und ein organischer Gegenstand wie ein Stein oder ein Stück Holz sollten mitgebracht werden. 

Die Zeremonie ist ausschließlich für Frauen. Eine Zeremonie, um sich selbst zu ehren, andere Frauen zu ehren und unsere spezielle Beziehung zu unserer Schwester, dem Mond. Die Zeremonie soll Gelegenheit geben uns mehr mit dem Rhythmus von Mutter Natur zu verbinden und die Kraft des göttlichen Weiblichen zum Vorschein zu bringen. 

Da sitzen wir also nun alle in einem Kreis, an einem verlassenen Strand in Kanada. Im Mondschein. Neben uns der Fluss. Die Landschaft scheint fast wie aus einem Märchen entsprungen. Unwirklich und so voller Schönheit, dass man sich kaum zu atmen traut. 

Acht Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Aus unterschiedlichen Ländern und verschiedenen Altersgruppen. Mit eigenen Lebenswegen, Schicksalen, Träumen und Wünschen und doch alle gemeinsam zur gleichen Zeit an diesem so speziellen Ort. 

Zu Beginn wird Salbei entzündet. Das Verbrennen von Salbei soll die Luft von schädlichen Bakterien oder negativen Energien reinigen. Der Duft ist markant und hat etwas Ursprüngliches, etwas Befreiendes. 

Die Zeremonie ist simpel. Es gibt unterschiedliche Fragen zu denen reflektiert wird, Jede geht in sich und notiert ihre Erkenntnisse auf dem Blatt Papier. Im Anschluss kann jede Teilnehmerin etwas von dem teilen, was sie aufgeschrieben hat, sofern sie das möchte. 

Bei der ersten Frage kann man die Unsicherheit untereinander regelrecht spüren. Will ich wirklich meine tiefsten Gedanken und Gefühle hier preisgeben? Was ist, wenn meine Antwort unpassend ist? Was, wenn ich dann in einem anderen Licht gesehen werde? Was, wenn ich beurteilt oder schlimmer, sogar verurteilt werde? 

Dann wird die erste Antworte in der Runde geteilt, ehrlich und authentisch. Und der Bann ist gebrochen. 

Man kann spüren, wie sich die Energie wandelt und sich ein unsichtbarer, sicherer Raum auftut, dort inmitten der kanadischen Dunkelheit, am Rande des Nirgendwo. 

Und was sich zeigt – egal bei welcher Frage, die Antworten ähneln sich. Zwar im Detail sehr unterschiedlich, aber die zugrundeliegenden Gedanken und Ängste sind immer dieselben. 

Da ist zum Beispiel die Angst nicht gut genug zu sein. Die Angst nicht allen Anforderungen gerecht zu werden. Anforderungen, die einem die Gesellschaft auferlegt hat, aber auch vor allem Anforderungen, die man sich selbst auferlegt hat. Da ist die Tendenz sich zu überfordern, immer mehr leisten und erreichen zu wollen. Keine Zeit für den Augenblick zu haben. 

Atmen? Zeitverschwendung. 

Da ist ein Gefangen sein im Alltag, gefesselt von all den Informationen und Aufgaben, die täglich auf uns einprasseln. Ein Verloren sein in einer Welt die, obwohl mehr Technologie und Networking als je zuvor zur Verfügung stehen, mehr Einsamkeit denn je bereithält.

Und während wir reflektieren, in uns gehen, unsere Wünsche und Ängste teilen, wandert unsere Schwester Mond langsam über den Himmel und schiebt sich hinter den Baumwipfeln hervor. Der Fluss in goldenes Licht getaucht. Es ist fast taghell, so kräftig schimmert der Mond über das Tal hinweg. 

Erleichterung und Dankbarkeit umgeben die Gruppe. Als letzten Schritt legt jede Teilnehmerin noch eine Sache fest, die sie an diesem besonderen Abend loslassen möchte. Etwas woran man schon lange festhält, etwas das möglicherweise den Verstand und den Geist benebelt, einen nicht sich selbst sein lässt. Und dann werfen wir symbolisch unsere Steine, Wurzeln oder Stöcke in den Fluss und schauen zu wie sie im Mondschein im Fluss versinken und mit ihnen hoffentlich unsere persönlichen Schatten, die wir loszulassen versuchen. 

Der Durchschnittsmensch fühlt sich allein mit seinen oder ihren Ängsten, Sorgen und Gefühlen. Man denkt andere Leute beschäftigt so etwas nicht, weil im Normalfall keiner darüber redet. 

Als Psychologin ermutige ich meine Klienten und Klientinnen immer dazu offen zu teilen. Ich erkläre ihnen, dass der offene Austausch mit einer Erleichterung einhergeht. Diesen Rat zu geben und ihn selbst zu leben, sind aber zwei komplett verschiedene Dinge. 

Im Mondschein in Kanada wurde mir wirklich klar, wie ähnlich wir uns doch alle sind und was für eine Macht diese Gemeinsamkeit mit sich bringt. Wir sind nie allein mit all unseren Ängsten und Zweifeln. Und wenn wir uns entschließen zu teilen, dann gehen wir stärker daraus hervor und können umso heller scheinen in unserem Leben, genau wie der Vollmond in dieser speziellen Nacht im Westen Kanadas.