Es ist ein klirrend kalter Tag im schneereichen Kanada, als ich mit meinen UGG-Boots und meiner Wollmütze vor die Tür trete. Minus 25 Grad sind hier keine Seltenheit, die Luft ist oft so schneidend kalt, dass es einem regelrecht den Atem verschlägt. Aufgelöst und wütend stürme ich auf die Straße und marschiere ziellos die Straße entlang. Der ganze Tag war eine einzige Katastrophe: Ärger mit meinem Vorgesetzten, eine Auseinandersetzung mit Freunden, Verwirrungen und Missverständnisse haben den Tag gezeichnet.
Und so stapfe ich also am Straßenrand entlang, um meine Gefühle zu sortieren und einen freien Kopf zu bekommen. Ein Spaziergang im kanadischen Ort Golden in British Columbia umfasst ziemlich genau eine große Straße, welche die elementaren Einrichtungen des Ortes miteinander verbindet. Das klassische Pub und ein Burger-Restaurant, ein Supermarkt, ein Liquor Store und ein Buchladen. Der Ort liegt malerisch umgeben von Natur und Wildnis, Bergketten, Flüsse und Seen finden sich in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Während ich also noch vollkommen aufgelöst die Straße hinunterlaufe, den Blick starr auf den Boden gerichtet – es soll mich ja bloß niemand ansprechen – biege ich um die nächste Kurve, die Gebäude teilen sich und geben den Blick frei auf die Rocky Mountains. Ich bleibe abrupt stehen. Schon hunderte Male habe ich den Anblick der Rocky Mountains genossen und ihn förmlich aufgesogen, die Schönheit dieser Bergkette ist einfach atemberaubend. Und doch fühlt es sich an diesem Tag so an, als würde ich das Bergmassiv zum allerersten Mal wirklich sehen, als würde ich die Rocky Mountains in ihrer ganzen Urgewalt wahrnehmen und in jeder Zelle meines Körpers spüren. Majestätisch liegen die Berge vor mir, vollkommen unbeeindruckt von meinem persönlichen Drama und Herzensschmerz des Tages. In mir steigt ein Gefühl von tiefster Demut und Ehrfurcht auf, meine Probleme und Sorgen erscheinen so nichtig vor diesen Berggiganten, die sich vor mehr als 40 Millionen Jahren auf unserer Erde empor geschoben haben. Perspektivwechsel innerhalb weniger Sekunden, ausgelöst durch die positive Emotion der Ehrfurcht.
In der englischen Sprache nennt sich die Emotion bildhaft „AWE“, entsprechend dem Laut, den man zum Ausdruck bringt, wenn man ehrfürchtig ist. Wenn wir Ehrfurcht oder Awe empfinden, haben wir das Gefühl, uns in der Gegenwart von etwas Großem zu befinden, das unser gegenwärtiges Verständnis der Welt übersteigt.
Szenenwechsel. Wir lassen die kanadischen Rockies hinter uns und befinden uns im pazifischen Ozean auf einem Boot, das von zwei bis drei Meter hohen Wellen auf und ab gehoben wird. Ich bin weit davon entfernt, auch nur ansatzweise ein Gefühl von Ehrfurcht zu empfinden. Seit 2 Stunden fährt das kleine Boot mit rund 25 Touristen und meiner Wenigkeit aufs offene Meer hinaus. Mein Blick ist starr auf den Horizont gerichtet, meine Finger umkrallen die Reling, tiefes Ein- und Ausatmen. Innerlich bete ich, dass die zwei Übelkeitstabletten, die ich vor der Abfahrt eingeworfen habe, ihren Dienst tun werden. Urplötzlich hält das Boot an, wir haben unser Ziel erreicht. Jetzt heißt es für alle Passagiere: Neoprenanzüge anlegen und bereit machen für ein atemberaubendes Erlebnis – Nachtschnorcheln mit Manta Rochen. Bis jetzt finde ich aber weiterhin noch gar nichts atemberaubend, die Schwankung des Bootes ist im Stillstand noch extremer und die Aussicht, bei einbrechender Dunkelheit ins Wasser zu steigen, ist eher angsteinflößend als inspirierend. Ich bin angespannt. Es gibt noch eine kleine theoretische Einführung, und dann lassen wir uns ins Wasser gleiten, in ein schwarzes Loch der Ungewissheit. Wir bilden einen Kreis und halten uns alle mit ausgestreckten Armen an einer Art riesigem Surfbrett fest. Unter unseren Knien befinden sich Poolnudeln, so dass wir alle horizontal an der Wasseroberfläche treiben können und die Tiere nicht versehentlich mit unseren Schwimmflossen verletzen. An der Unterseite des Bretts sind Scheinwerfer befestigt. Wir bekommen das Zeichen, nach unten zu schauen, über den Schnorchel zu atmen. Die Wellen heben uns nach oben und nach unten, wir sind komplett eins mit dem Rhythmus des Ozeans. Ich positioniere erneut meine Brille und meinen Schnorchel, versuche meine Anspannung beiseitezuschieben und blicke nach unten in die Tiefe des Ozeans. Und dann sehe ich sie zum allerersten Mal – die legendären und gigantischen Manta Rochen. Kreaturen wie von einem anderen Planeten, strahlen sie absolute Magie aus. Ganz elegant und ruhig gleiten die Meeresgiganten durchs Wasser, große Exemplare können bis zu sieben Meter Spannweite erreichen (das ist breiter als unser Boot). Durch die Scheinwerfer wird Plankton angelockt, was die Hauptnahrungsquelle dieser eindrucksvollen Tiefseebewohner ist. Und so schwimmen die Giganten mit aufgerissenem Schlund auf uns zu, vollführen eine akrobatische Rolle knapp unter den Scheinwerfern, um sämtliches Plankton aufzusaugen, und verschwinden wieder in den Tiefen des Ozeans, nur um einige Sekunden später wieder emporzuschießen.
Und da ist sie wieder, diese kraftvolle Emotion der Ehrfurcht. Das Gefühl, ein Teil von etwas Großem zu sein. Das Gefühl, wenn das eigene Ego vollkommen zum Schweigen gebracht wird. Kein Platz für Grübeleien und individualistische Problemzentriertheit, keine Übelkeit und keine Anspannung. Nur der Ozean und Giganten aus der Tiefe.
Der Psychologieprofessor Dacher Keltner von der Universität in Berkeley hat sein halbes Leben damit verbracht, Ehrfurcht als Emotion zu erforschen. Laut Keltner gibt es acht sogenannte Wunder der Ehrfurcht, darunter moralische Schönheit, Kollektivbewusstsein, Natur oder Musik.
Die Bereiche, in denen Ehrfurcht als Emotion auftreten kann, sind vielfältig, ebenso wie die positiven Effekte auf unser Wohlbefinden. Die Forschung zeigt, dass das Erleben von Ehrfurcht Stress reduziert, uns dazu inspirieren kann, selbstloser zu handeln, uns kreativer werden lässt sowie unsere Lebenszufriedenheit erhöht.
Der Anblick der Rocky Mountains oder das Schnorcheln mit Manta Rochen sind sicherlich außergewöhnliche Beispiele. Für das Erleben von Awe muss es aber nicht immer größer, höher, weiter sein. Untersuchungen zeigen, dass Menschen zwei- bis dreimal pro Woche Ehrfurcht erleben, wenn sie das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen finden: die Großzügigkeit eines Freundes gegenüber einem Obdachlosen auf der Straße, der Duft einer Blume, das Licht- und Schattenspiel eines belaubten Baumes auf dem Gehweg, ein Lied, das einen an die erste Liebe erinnert… Alltägliche Ehrfurcht.
Ehrfurcht kann immer und überall um uns herum entstehen, wir müssen nur aufmerksam sein. Bist du dir zum Beispiel darüber bewusst, dass dein Gehirn gerade Linien auf einer Seite entschlüsselt, einen größeren Zusammenhang daraus herstellt und gleichzeitig fremde Geräusche aus der Umgebung filtert, deinen Muskeltonus aufrechterhält und deine Atmung steuert? Man könnte fast ehrfürchtig werden, oder nicht?
Ehrfurcht aktiv im Alltag zu fördern, ist gar nicht so kompliziert. Wenn du das nächste Mal einen Fuß vor die Tür setzt, wähle eine Zahl zwischen 1 und 100 und gehe diese Anzahl an Schritten. Dann blicke dich um und sei offen für das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen! Wer weiß, was du alles entdeckst 😊