Einhunderteins. Einhundertzwei. Einhundertdrei. Ich will hier weg. Einhundertvier. Ich kann nicht atmen. Einhundertfünf. Es ist zu viel. Einhundertsechs. Welche Zahl war das gerade?
Ein Martyrium meiner Gedankenwelt, dabei sollte doch alles so magisch und wundervoll sein. Ich befinde mich in Neuseeland. Das vermeintlich schönste Land der Erde. Ein Land voller Wunder – ein Fleck Erde bei dem sich Ozeane und Gletscher treffen, bei dem Fjorde und Klippen, Seen und Wasserfälle die Landschaft zieren. Ich wandere den berühmten Kepler Track, einer der zehn Great Walks in Neuseeland – 60 km über 4 Tage verteilt.
Eingebettet in atemberaubende Landschaften liegen 3 Hütten entlang des Wanderweges – die Iris Burn, Moturau and Luxmore Hütte. Mit Toiletten, fließend Wasser und Gasöfen ausgestattet, zählen diese Hütten zu den luxuriöseren Backcountry Huts Neuseelands.
Einhundertsieben. Einhundertacht. Einhundertneun. Meine Schultern fühlen sich an, als würden sie Zement tragen. Ich schnalle den Hüftgurt enger, um den Druck auf den Nackenbereich zu reduzieren. Ich bereue jedes Gramm, dass sich zu viel in meinem Rucksack befindet und gleichzeitig frage ich mich, wieso ich nicht noch einen Schokoriegel mehr eingepackt habe.
Trotz der luxuriösen Ausstattung der Hütten muss das Nötigste im Rucksack transportiert werden. Ein Schlafsack und ein Kissen, sämtliche Lebensmittel, Kochutensilien wie Campinggeschirr und Topf, Kosmetika und natürlich Wechselklamotten. Bei der neuseeländischen Witterung kommt da einiges zusammen, wir bewegen uns auf einem Spektrum von fast null Grad und Wind über Regen bis hin zu 25 Grad und Sonne – und das alles innerhalb eines Tages.
Einhundertzehn. Es ist der dritte Tag meiner Wanderung und meine Gedanken bewegen sich in Richtung einer Dunkelheit. Die Landschaft, die mich umgibt, ist unbeschreiblich schön. Ich wandere über alpine Bergketten und Fjordlandschaften, durch heimische Wälder und an Seeufern entlang. Ich liebe wandern und bin eine absolute Outdoor-Enthusiastin, aber dieser Track stellt mich vor Schwierigkeiten. Und zwar vor innere Schwierigkeiten. Meine Gedanken brüllen so laut, dass ich denke mir Platz der Kopf. Einhundertelf.
Ich wandere diesen Track allein, genauso wie ich meine gesamte Reise allein bestreite. Ich liebe es allein zu reisen – so viel Freiheit und Flexibilität, die Chance an meine Grenzen zu gehen, mich selbst zu beweisen. Und doch bei diesem Track scheint die Einsamkeit Überhand zu nehmen und mich einzuhüllen wie Nebel. Die Warmherzigkeit und Offenheit der Neuseeländer und Neuseeländerinnen ist natürlich auch auf dem Kepler Track zu spüren, eine Nation wie sie authentischer und einladender nicht sein könnte. Und so bin ich auch abends in den Hütten selten allein, werde zum Kartenspielen und Nachspeise Essen eingeladen und ausführlich zu meiner Reise befragt. Und dennoch, das Gefühl von Einsamkeit bleibt.
Einhundertzwölf. Einhundertdreizehn. Es ist dieses undefinierte Gefühl, dass ich nicht abschütteln kann. Ein Gefühl von Gefangenschaft. Ein ausgeliefert sein. Den eigenen Gedanken ausgeliefert. Während ich zwischen silbernem Farn und Buchenbäumen hindurchwandere, realisiere ich, dass ich komplett mit meinen Gedanken allein bin.
Auf dem Track gibt es natürlich keine Stromversorgung, so dass ich mein Handy nur kurzzeitig anschalte, um die Schönheit der neuseeländischen Natur in einem Foto festzuhalten. Es gibt keine Musik, keinen Podcast, keine Meditationsanleitung mit denen ich meine Gedanken leiser drehen könnte. Kein WhatsApp oder Internet für die Zeit in der ich unterwegs bin.
In meinem Alltag kann ich durchaus mit mir und meinen Gedanken alleine sein, mir bewusst eine Auszeit von meinem Handy nehmen. Aber natürlich nie so lange und nie so gezwungen.
Einhundertvierzehn. Einhundertfünfzehn. Einhundertsechzehn. Ich spüre einen Impuls in mir aufsteigen, loszurennen. So schnell es geht den Track beenden. Da stehe ich also in der neuseeländischen Wildnis mit schmerzenden Schultern und einem Gedankenkarussell, welches sich von Minute zu Minute mehr in sich selbst zu verstricken scheint. Als wäre die Situation nicht schon verfahren genug, beginnt mein marterndes Gehirn die Lage zu bewerten oder besser gesagt, mich selbst abzuwerten. Die Eckpfeiler meiner psychologischen Arbeit aber auch für mich als Person sind Themen wie Dankbarkeit, Achtsamkeit oder positive Emotionen. Wie kann also gerade ich hier in Neuseeland stehen und nicht vor Freude platzen, strahlen, jede Sekunde genießen und die Natur um mich herum feiern? Stattdessen zähle ich von 0 aufwärts, um meine Gedanken zu beruhigen, gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen und die Minuten zu überbrücken. Einhundertsiebzehn.
Häufig haben wir verlernt auf uns selbst und unsere Gefühle und Gedanken zu achten. Es ist so viel einfacher uns mit Musik oder Podcasts, Reels und nichtssagenden WhatsApp Unterhaltungen zu beschallen, als innezuhalten und unsere unangenehmen Gefühle wahrzunehmen. In der gezwungenen Stille des neuseeländischen Fjordlandes gibt es aber nur mich und meine Gedanken. Und diese brüllen, und zwar ohrenbetäubend laut. Einhundertachtzehn. Einhundertneunzehn. Einhundertzwanzig.
Fakt ist, manchmal sind wir nicht in unserem höchsten Selbst. Manchmal kommen wir an unsere Grenzen und das gilt es ernst zu nehmen. Es ist entscheidend sich nicht dafür abzuwerten, wenn eigene Grenzen erreicht werden, vielmehr sollte es als Einladung betrachtet werden – als Möglichkeit zu reflektieren, was einem diese Erfahrung möglicherweise sagen will.
Vielleicht sind manche Sachen allein nicht genauso gut wie mit Freunden oder geliebten Personen? Auch, wenn ich vehement darauf bestehe, dass ich alles allein machen kann und keinerlei Limitierungen hinnehmen möchte. Vielleicht ist es okay sich manchmal einsam zu fühlen? Vielleicht überfordern mich manche Situationen? Vielleicht ist mein Geist zuweilen nicht so in Balance, wie es mir selbst den Anschein macht?
Ich habe in den Tagen nach dem Track viel über dieses Erlebnis reflektiert, mir Zeit genommen diese Erfahrung einzuordnen und nehme es als Anlass mir noch bewusster über meine innere Welt zu werden. Mehr Momente der Stille einzubauen, negativen Gefühlen und Zweifeln ebenso Raum zu geben wie all den positiven Gefühlen, meinen Grad der alltäglichen Beschallung kritisch zu reflektieren – all das mit einer wohlwollenden und liebenden Haltung mir selbst gegenüber. Ich habe bewusst Mitgefühl für mich selbst aufgebracht, anstatt mich weiter abzuwerten.
Und während ich diese Zeilen schreibe, mache ich mich bereit für den nächsten Track. Und diesmal gehe ich nur zwei Nächte und nicht wie ursprünglich geplant drei Nächte. Und das ist okay. Zugegeben ein wenig Respekt bleibt vor den kommenden Tagen. Ich starte den nächsten Great Walk mit ein bisschen Angst aber auch mit einem tiefen Vertrauen, dass egal welche Erfahrung der Track für mich bereithält, es für mich eine Möglichkeit des Wachstums sein kann, wenn ich es denn zulasse. Null.